Das Nichtsprechenwollen der Herkunftssprache beschreiben Melanie Kuhn und Isabell Diehm als ein Phänomen, bei dem mehrsprachige Kinder zwar durchaus Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache aufweisen, diese aber nicht sprechen wollen. Eine ungesprochene Mehrsprachigkeit wäre demnach bei Kindern der Fall, die in einem mehrsprachigen Umfeld aufwachsen und über mehrsprachige Sprachkenntnisse verfügen, aber nur einsprachig agieren.
Als Teilaspekt des Projektes „Ethnische Heterogenität und die Genese von Ungleichheit in Bildungseinrichtungen der (frühen) Kindheit“ untersuchten sie in Elterngesprächen, wie pädagogische Fachkräfte im Gespräch mit Eltern durch Beschreibung von Lern- und Entwicklungsschritten Unterschiede und Ungleichheit zwischen Kindern generieren. Kuhn und Diehm stießen dabei auf Gesprächsbestandteile, welche das Nichtsprechenwollen mehrsprachiger Kinder beinhalten. Bei diesen Entwicklungsgesprächen ging zumeist eine Problematisierung der Situation durch die Eltern voraus, welche dann aber von den pädagogischen Fachkräften als ‚normal‘ beschrieben wurde.
Das Nichtsprechenwollen der Herkunftssprache durch die Kinder wird in den Elterngesprächen über drei Arten erklärt und beschrieben: Als (1) Frage der Kompetenz; als (2) Frage der Entwicklung; und als (3) Frage der Identitätsstiftung und -findung. Das Nichtsprechenwollen des Kindes in Form der Kompetenz, wird dahingehend konstruiert, dass das Kind zwar Kompetenzen in der Herkunftssprache hat, diese aber aufgrund der bilingualen Kompetenzen der Eltern zuhause nicht sprechen muss und damit nicht will. Im Sinne der Entwicklung wird Nichtsprechenwollen als normale Entwicklungsphase des Sprachgebrauchs entlarvt, dem ein Sprechen der Herkunftssprache in anderen Entwicklungsphasen folgen wird. Als letztes wird erklärt, dass sich die Kinder in einer Phase der Identitätsfindung befinden und ein phasenhaftes Nichtsprechen der Herkunftssprache auch hier normal sei. Zentral ist, dass die pädagogischen Fachkräfte zum einen das Nichtsprechenwollen als vorübergehendes Phänomen normalisieren und zum anderen in die Erziehungspraktiken der Eltern einwirken, in dem sie postulieren, dass diese nicht in die Sprachpraktiken ihres Kindes regulierend eingreifen sollen.
Kuhn, M. & Diehm, I. (2015). Sprechen über das Sprechen der Kinder. Thematisierungsweisen ,ungesprochener‘ Mehrsprachigkeit im elementarpädagogischen Feld. In: Schnitzer, A. & Mörgen, R. (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und (Un-)Gesagtes. Sprachen als soziale Praxis in der Migrationsgesellschaft. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 109-130.